Ein Gen tanzt aus der Reihe und macht Pia aus Straßberg zu einem Rett-Mädchen

17.12.2019

Lions-Präsident Pfarrer Christof Seisser besuchte Pia und ihre Familie. © Gudrun Stoll

Pia aus Straßberg kann plötzlich nicht mehr sprechen und verlernt, was sie schon alles konnte. Die Eltern sind ratlos, dann folgen Untersuchungen. Das Ergebnis: Die Tochter leidet am Rett-Syndrom. Die Diagnose stellt die Welt der Familie auf den Kopf.

 

ZAK 17.12.2019- von Gudrun Stoll.

 

Als Pia auf die Welt kam, freuten sich ihre Eltern über die Geburt eines scheinbar gesunden Kindes. Alle Vorsorgeuntersuchung in der Schwangerschaft waren einwandfrei und auch in den ersten Lebensmonaten entwickelte Pia sich ganz normal. Bis eines Tages die Bremse angezogen wurde und sich alles verlangsamte. Das Mächen mit der blonden Mähne und den strahlend blauen Augen verlernte nach und nach, was es bereits konnte.

Da stimmt was nicht

Die Eltern beobachteten die Veränderungen ihre Tochter mit Sorge, ließen sich für einige Zeit von Ärzten vertrösten. Dann folgte auf Eigeninitiative ein erster humangenetischer Test. Zunächst ohne Befund. Die nächste Runde brachte Gewissheit, Ernüchterung, Ängste und Trauer mit sich. Endlich wussten sie was nicht stimmte: Ihre kleine Pia hat das Rett-Syndrom!

Das Leben, wie es mit ihrem Wunschkind geplant hatten, war ab dem Tag der Diagnose vorbei. Mit einem Mal stand die Welt still. Die Eltern hatten Fragen: Was müssen wir tun? Wie geht es weiter? Wie wird unser Leben, wie wird vor allem der Alltag mit einem mehrfach schwerstbehinderten Kind aussehen? Wie lösen wir die Betreuung die nächsten Jahre und Jahrzehnte? Wer tritt beruflich zurück?

Zukunft gerade erst geplant

Dabei hatte die kleine Familie die Zukunft gerade erst geplant: Sie hatte im Herbst 2018 ein Haus gekauft und wollte ein gemütliches Heim schaffen. Noch während der Umbauphase kam der Anruf, der das Leben der jungen Familie veränderte und komplett auf den Kopf stellte.

Stand heute: nicht heilbar

Stand heute ist die Krankheit nicht heilbar, aber Pias Eltern wollen die Hoffnung nicht aufgeben. In den USA wird geforscht, setzen die Wissenschaftler auf Gentherapie. Sollte ein Medikament auf den Markt kommen: „Es würde drei Millionen Euro kosten“, erzählt Pias Mutter.

Alltag kostet Kraft

Elf Monate sind seit der Diagnose vergangen. Die Eltern haben den schweren Schicksalsschlag angenommen und versuchen, so gut es geht den Alltag zu meistern. Pia besucht eine integrative Kita in Albstadt, ihre Mutter arbeitet halbtags als kaufmännische Angestellte in einem Pflegeheim. So tankt sie neue Energie für den kräftezehrenden Alltag.

Klinikum Kassel ist erste Adresse

Die Eltern fördern Pia so gut sie können und scheuen keine Wege, keine Kosten und keine Mühen, um ihr das Bestmögliche zu bieten. Regelmäßig fahren sie ins Klinikum nach Kassel, eines der wenigen Krankenhäuser in Deutschland, das sich auf das seltene Rett-Syndrom spezialisiert hat. Professor Dr. Bernd Wilken gilt als einer der Experten in Deutschland und befasst sich seit über 20 Jahren mit dem Rett-Syndrom.

Dichtes Netzwerk

Für betroffene Kinder- und Jugendliche hat das Klinikum Kassel eine bundesweit einmalige interdisziplinäre Spezialsprechstunde zur Diagnostik und Therapieeinleitung eingerichtet und bietet eine Sprechstunde für Erwachsene an. Ziele der Sprechstunde sind die Beratung der Eltern und das Gespräch über besondere Präventivmaßnahmen. Pias Eltern setzen großes Vertrauen in Professor Wilken und erfahren über das Netzwerk die neuesten Erkenntnisse über den Stand der Forschung. Sie pflegen im Zollernalbkreis mittlerweile auch Kontakt zu einer Familie, in der ebenfalls ein Rett-Mädchen lebt.

Lions Club Balingen hilft

Das Schicksal der Straßberger Familie hat auch Birgit Posch tief berührt. Die Filialleiterin der Sparkasse in Straßberg hat den Sparkassenvorstand Claus Kimmerle, der Lions-Mitglied ist, auf die Geschichte aufmerksam gemacht. Der Lions Club Balingen hat spontan entschieden, der Familie zu helfen und auf das Schicksal vom Pia aufmerksam zu machen (auf Grund des Berufes des Ehemanns wird der Name der Familie nicht genannt).

Therapie kostet viel Geld

Aktueller Lions-Präsident ist Pfarrer Christof Seisser aus Balingen. Er hat die Familie vor wenigen Tagen besucht und einen Scheck über 1000 Euro überreicht. Die Eltern benötigen finanzielle Unterstützung, um ihre Tochter über Therapien und Lernhilfen zu fördern. So kostet ein Lerncomputer, den das Mächen über Augenkontakt bedienen kann, rund 18 000 Euro. Die Familie wird auch Reha-Buggy benötigen. In der Wohnung ist Pia zwar pausenlos unterwegs „aber lange Strecken im Freien läuft sie uns nicht“, erzählt ihre Mutter.

Ein etwas anderes Leben

„Wir führen nun ein etwas anderes Leben und sind froh über alle unsere Freunde und die Familien, die uns dabei tatkräftig unterstützen,“ fügt sie an.
Wer die Familie finanziell unterstützen möchte, kann über das Hilfswerk des Lions Club Balingen spenden. Wichtig ist, auf der Überweisung „Spende für Pia“ anzugeben.
Die Konten des Hilfswerk des Lions Club Balingen:
Sparkasse Zollernalb: DE 60 653 512 60 0025 045 631,
oder Sparkasse Hohenzollern-Balingen: DE 24 6416 322 51 058 058

Hintergrund

Wie in der Fachliteratur nachzulesen ist, wurde diese genetisch bedingte Krankheit vom Wiener Kinderneurologen Andreas Rett erstmals 1966 beschrieben. Die Störung wird auf dem X-Chromosom hervorgerufen und betriff fast nur Mädchen. Das Rett-Syndrom tritt in der frühen Kindheit unvorhersehbar auf. Die betroffenen Kinder entwickeln sich anfangs scheinbar vollkommen normal, dann treten Veränderungen auf.

Krankheitsbild

Bereits erlernte Fähigkeiten können schon im Kleinkindalter zwischen dem siebten Lebensmonat bis spätestens dem zweiten Lebensjahr wieder verloren gehen. Zum Krankheitsbild können Autismus, Epilepsie, Schlafstörungen, Angstzustände und Parkinson gehören.

Häufigkeit

Die meisten Mädchen können auf Dauer weder reden, noch gehen noch stehen und sind im späteren Lebensjahren auf einen Rollstuhl angewiesen. Pia ist eines von etwa 50 Mädchen, die jährlich in Deutschland mit dem Rett-Syndrom geboren werden. Sie ist mittlerweile dreieinhalb Jahre alt. Nicht alle Symptome sind bei ihr ausgeprägt. Aber ob Pia auf Dauer gehen kann, wissen ihre Eltern nicht, denn die Krankheit verläuft in verschiedenen Phasen.

 

Bild, Artikel und Text: Zollern-Alb-Kurier vom 17.12.2019.